24 Jul

Interview mit PD Dr. phil. Thomas Röske Leiter der renommierten Sammlung Prinzhorn anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „so gesehen“ im Haus der Katholischen Kirche 20. Juli bis 30. August 2024

Am 20. Juli 2024 wird Herr Röske die Preisverleihung von 50 ausgezeichneten Werken des vom Landespsychiatrietag Baden-Württemberg (landespsychiatrietag.de) zum sechsten Mal ausgeschriebenen Kunstwettbewerbs „so gesehen“ moderieren. Der Kunstpreis richtet sich an psychiatrieerfahrene Kunstschaffende mit Wohnsitz in Baden-Württemberg, die in ihren Werken ihre persönliche Weltsicht zum Ausdruck bringen – Thema und Inhalt der Werke sind frei wählbar. Aus 749 eingesendeten Bildern wählte die Jury 50 Bilder, die in einer Sammelausstellung mehr als 12 Monate durch Baden-Württemberg wandet.

KINDERMANN: „Herr Röske, seit über 20 Jahren befassen Sie sich mit Kunst aus psychiatrischem Kontext. Haben Sie dabei verbindende Elemente gefunden? Sowohl unter den Arbeiten der Kunstschaffenden – als auch zwischen Kunst und Psyche (oder andersherum)?“

RÖSKE: „Neben der Eigensinnigkeit der Werke und einer oftmals großen Originalität in Inhalt und Form fällt mir die Nähe zur Existenz der Künstler*innen auf sowie ihr Wunsch, etwas von der besonderen individuellen Erfahrung zu vermitteln. Dazu gehört natürlich auch die Erfahrung mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft, mit Ausgrenzung und Stigmatisierung. Ich bin fasziniert davon, dass Menschen immer wieder neue Formen für das finden, was Sie innerlich berührt und uns damit einen Zugang zu ihren persönlichen Welten ermöglichen. Das kann jedem von uns helfen. Denn von psychischen Krisen, kleineren oder größeren, sind viele, wenn nicht wir alle irgendwann einmal in unserem Leben betroffen.“

KINDERMANN: „Aber hilft Malen wirklich? Wie unterschätzt ist bildende Kunst als Ausdrucksmittel (oder sogar „Lösungsmittel“) für die menschliche Psyche?“

RÖSKE: „Ich glaube, niemand kann sich durch seine Kunst therapieren, im Sinne von <<gesund machen>>. Aber Kunst kann psychisch stabilisieren, sowohl die Schöpfer als auch die Betrachter der Werke. Je mehr allgemein eingeführte, traditionelle Symbole und Ausdrucksformen jemand in künstlerischen Werken verwendet, um so leichter sind die vermittelten Inhalte nachvollziehbar. Gerade so genannte Outsider Art bedient sich oft eigensinniger Symbole und Ausdrucksformen, was ein Verständnis erschweren kann. Aber die Kunstwelt hat sich im 20. Jahrhundert allgemein daran gewöhnt, in Kunst mit <<individuellen Mythologien>> (Harald Szeemann) konfrontiert zu werden. Das Rätselhafte, das zu eigenen Projektionen einlädt, gehört heute zum Reiz von Kunst dazu.“

KINDERMANN: „Der Kunstpreis „so gesehen“ bietet den Kunstschaffenden die Möglichkeit Ihre eigene Sichtweise zu zeigen. Dabei ist Sichtweise, die Betrachtung oder Bewertung aus einer speziellen Richtung heraus. Was zeichnet Bilder des Kunstwettbewerbs „so gesehen“ aus?

RÖSKE: „Werke von Psychiatrieerfahrenen vermitteln oftmals ihre besonderen existentiellen Erfahrungen – mit der eigenen Innenwelt, aber auch mit der umgebenden Gesellschaft. Wir können alle von diesen Einsichten profitieren, wenn wir uns auf die Werke einlassen.“

Deniz Aras Zirkus
Deniz Aras Zirkus

KINDERMANN: „Zu den Preisträgern. Die drei ersten Bilder des Kunstpreises haben bewusst keine <<Ordnung>>. Die folgenden drei Werke sind gleich mit einem ersten Preis ausgezeichnet. Was sehen Sie – aus Ihrer Sichtweise – im Bild „Zirkus“ von Deniz Aras?“

RÖSKE: „Ich sehe Menschen und Tiere in und um eine Zirkusmanege in farblicher Vielfalt. Der Zeichner hat behutsam und bedächtig alle Figuren möglichst gleich gut dargestellt, die meisten von vorne, nur die unteren von hinten. So haben wir den Eindruck, die Szene ist auf uns bezogen, für uns gezeichnet. Es gibt keine perspektivischen Verzerrungen und nur wenige Überschneidungen oder Anschneidungen. Raum entsteht nur durch die Anordnung der Figuren. Zudem sind alle schattenlos auf den Blattgrund positioniert. Dadurch ergibt sich trotz einiger fester Reihungen der Eindruck eines entspannten Schwebens, einer Leichtigkeit.

Aras möchte uns an seiner Begeisterung für das Zusammensein vieler ihm bekannter Menschen (die alle benannt sind) bei einer spannenden Zirkusvorstellung teilhaben lassen. Zugleich bemerkt man seine erstaunliche Sicherheit in der Darstellung und seinen berechtigten Stolz darauf, der sich auch in der zentralen Signatur zeigt. Aras zeichnet wahrscheinlich auch gegen eine gegenteilige Einschätzung seiner Umwelt an. Er behauptet sich mit seinen Bildern.“

Rainer Schwantes Konfetti
Rainer Schwantes Konfetti

KINDERMANN: „Das Bild „Konfetti“ von Rainer Schwantes ist etwas anderes. Was erfahren wir bei der Betrachtung?“ RÖSKE: „Das Bild ist bis zu den Rändern bedeckt von kleinen Farbfeldern aus dicht gesetzten Punkten, die durch gepunktete schwarze Linien voneinander getrennt werden. Der Künstler hat die Felder durchweg ungleichmäßig geformt und nicht gegliedert. Sie sind aber alle ähnlich groß und mit einer begrenzten Zahl von Farben in ausgewogener Verteilung gefüllt. Dadurch und durch die Technik des Punktierens, die an vielen Stellen den Papiergrund sichtbar lässt, wirkt das Ganze trotz des Allover locker und luftig. Der Blick des Betrachters wandert entspannt immer weiter über das Bild und bleibt nirgends hängen, wenn er sich nicht willkürlich in Details vertieft. Dabei entwickelt sich eine meditative Stimmung, die Ähnlichkeit mit derjenigen des Künstlers haben dürfte, wenn er sich dem Prozess des immer gleichen Setzens verschiedenfarbiger Punkte hingibt, mit dem er die Fläche langsam füllt.“ 

Thomas Sperl Selbstportrait_1
Thomas Sperl Selbstportrait_1

KINDERMANN: „In welche Richtung zeigt dagegen das „Selbstportrait_1“ von Thomas Sperl?“

RÖSKE: „Das Selbstporträt zeigt leicht von unten den Ausschnitt eines Gesichtes. Die Größe des Blattes und die leichte Unschärfe der Darstellung steigern noch den Eindruck einer großen Nähe zu Lippen und Nase, der wir kaum ausweichen zu können scheinen. Dabei wirkt das Gesicht ganz ruhig und gelassen, mit genau beobachtenden Augen, wie sie eben für eine Studie seiner selbst im Spiegel typisch ist. Sperl lässt uns an seiner intimen Begegnung mit seinen eigenen Zügen teilhaben, an einer Nähe, die uns in der Realität unangenehm wäre, da sie den üblichen sozialen Abstand zu einer anderen Person unterläuft. So entsteht eine Spannung zwischen Faszination für das realitätsnahe Abbilden und dem Eindruck einer Aufdringlichkeit, vor der wir am liebsten fliehen wollen. Man wird unweigerlich in diese emotionale Ambivalenz hineingezogen.“

KINDERMANN: „Wenn ich mich jetzt von den Bildern inspiriert fühle selbst etwas zu schaffen, wie geht man am besten vor?“

RÖSKE: „Einfach anfangen. Nicht nach links und rechts schauen, auch nicht nach oben oder unten. Nicht fragen: Kann ich das überhaupt? Oder: Wie würden andere das machen? Einfach loslegen, mit den Mitteln und den Möglichkeiten, die man hat, und neugierig auf das Ergebnis sein. Falls man den Eindruck hat, es würde besser in einer Gruppe gehen, sollte man sich nach einem Offenen Atelier umsehen. Für Baden-Württemberg haben wir gerade im Internet eine Karte mit 37 dieser Einrichtungen veröffentlicht: www.offeneateliersinbw.de.“


PD Dr. phil. Thomas Röske ist seit November 2002 Leiter der renommierten Sammlung Prinzhorn am Zentrum für psychosoziale Medizin des Universitätsklinikums Heidelberg. Er hat Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Psychologie in Hamburg studiert, mit einer Arbeit über Hans Prinzhorn promoviert und sich 2015 an der Universität Frankfurt habilitierte mit einer Arbeit über „Kunst in psychiatrischem Kontext. Kunsthistorische Perspektiven“.

Er hält regelmäßig Lehrveranstaltungen am Zentrum für Europäische Kunstgeschichte der Universität Heidelberg und am Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Frankfurt. Seine Forschungsschwerpunkte sind: , Kunst und Psychiatrie, Outsider Art, Deutsche Kunst der Klassischen Moderne, Deutsche und englische Kunst und Kunsttheorie um 1800, Psychologische Aspekte von Kunst, Kunst und Außenseiter-Erfahrung

Seit 2012 ist Thomas Röske Präsident der European Outsider Art Association (EOA), außerdem ist er Mitglied in den Jurys der Kunstpreise „so gesehen“/Stuttgart, SeelenArt/München und EUWARD/München. Für seine Forschungs- und Ausstellungsprojekte zum Thema Kunst und Psychiatrie hat ihm die Deutschsprachige Gesellschaft für Kunst & Psychopathologie des Ausdrucks e.V. 2015 die Hans-Prinzhorn-Medaille verliehen.